Berge, Natur, Ruhe, glühende Gipfel im Sonnenuntergang – das ist das Bild, dass so ziemlich jeder mit dem Gedanken an eine Berghütte assoziiert. Während der Wanderer sich diese Romantik in wenigen Stunden auf dem Wanderweg erkämpfen kann, muss sie der Hüttenwirt so viel teurer bezahlen: Weit mehr als einhundert Arbeitsstunden pro Woche, unermüdlicher Einsatz, Expertise in den verschiedensten Berufen und Existenzängste – das ist der Preis, den Thomas Eder für das Leben auf der Hütte zahlt. Ich habe ihn auf seiner Hütte getroffen und einen tiefen Einblick in das Leben eines Hüttenwirts erhalten.

Es ist Anfang September. Die Luft riecht nach Schnee und pfeifft mir mit eisiger Kälte um die Ohren. Ich stehe mit meiner Begleitung an einem verlassenen Parkplatz etwas außerhalb von Lech am Arlberg in Österreich. Wir warten auf Thomas Eder, den Hüttenwirt der Ravensburger Hütte. Er will uns für die erste Nacht, bevor wir zu unserer sechstägigen Wanderung auf der Lechquellenrunde aufbrechen, mit auf seine Hütte nehmen. Wenig später kommt ein kleiner Seat um den Hügel. Wir begrüßen Thomas. Als ich den Kofferraum öffne, um meinen Rucksack reinzulegen springt mir ein schwarzer Wolf entgegen – Grinch, liebevoller Begleithund seines Besitzers wie ich später erfahre. Thomas lacht, er wollte nur zu gern mein Gesicht sehen. Mich lässt das Gefühl nicht los, dass er sich diesen Scherz nicht zum ersten Mal erlaubt.

Thomas scheint es eilig zu haben. Im Höllentempo geht es auf einer winzigen Straße nach oben. Der Weg schlängelt sich in wilden Kurven den Berg hoch und ist so schmal, dass kein anderes Auto vorbeikommen würde. Ich merke, wie meine Begleitung meinen Sitz umklammert… rechts Felswand, links ein steiler Hang hinunter zu einem Bergsee. Thomas scheint jedes Schlagloch blind zu erkennen. Trotzdem bin ich froh, dass er heute nur einen geliehenen Seat fährt statt seines Jeeps.

Eine halbe Stunde später, schwindelig und froh, endlich aus dem Auto aussteigen zu können, betreten wir seine Hütte. Statt in den Gastraum zu den anderen Gästen, führt er uns geradewegs durch die Küche in den Pausen- und Arbeitsraum seines Personals. Noch immer leicht desorientiert setzen wir uns gemeinsam an den großen Holztisch.

Ankommen

Die Ravensburger Hütte, in der wir nun sitzen, ist eine Schutzhütte des Deutschen Alpenvereins. Der DAV ist mit über einer Million Mitgliedern einer der größten Bergsportvereine weltweit. Kernaktivität sind Angebote im Breitenbergsport, alpine Ausbildung und Naturschutz. Zeitgleich unterhält der Verein mehr als 300 öffentlich zugängliche Hütten im alpinen Raum – Hütten, die besondere Umweltauflagen erfüllen und ein großes Netz an Wanderwegen abdecken. Jährlich investiert der Verein nach eigenen Angaben mehr als zehn Millionen Euro in den Unterhalt der Hütten.

Angekommen auf der Ravensburgerhütte. Thomas Eder schaut nach seinem Hund Grinch.

Thomas Eder ist Wirt einer solchen Hütte. Seit zwei Jahren bewirtschaftet er die Ravensburger Hütte an der Lechquellenrunde, zuvor neun Jahre lang die Regensburger Hütte am Stubaier Höhenweg. Er hat klare Ziele für die Lechquellenrunde und seine Hütte – deshalb hat er mich eingeladen. Ich, als Reisebloggerin, soll ihm mit einem Blogbeitrag über die Lechquellenrunde zu mehr medialer Aufmerksamkeit verhelfen.

Während ich noch immer mit flauem Gefühl in der Magengegend am Tisch sitze und meinen Notizblock hervorkrame, um ein paar Informationen für meinen Beitrag zu sammeln, habe ich noch keine Ahnung, dass ich in den nächsten Stunden einen so tiefen Einblick in das Leben eines Hüttenwirts bekommen werde, wie wahrscheinlich wenige fremde Großstädter zuvor.

Die 115-Stunden-Woche

Als Lena (Name geändert), eine der acht Angestellten, die Vorspeise aus der Küche bringt, habe ich längst meinen so sorgfältig geplanten Interviewleitfaden verworfen. Während wir hungrig die heiße Lauchsuppe aus unseren Tassen löffeln, erzählt Thomas von seiner Arbeit als Hüttenwirt. Vier Monate im Jahr arbeitet er tagein tagaus auf der Hütte – von morgens um sechs bis abends um zehn, manchmal auch noch länger. In diesen Stunden ist er Koch und Kellner, Klempner, Manager, Personaler, Marketer und Social-Media-Beauftragter, Kommunikator, Buchhalter, Berater in Wanderfragen und Hundetrainer. Wenn es sein muss, springt Thomas überall ein, wo er gebraucht wird – im Notfall auch am Abwaschbecken. Knapp 6500 Reservierungen erhält er zwischen Mitte Juni, Beginn der Saison, und Mitte Oktober, wenn die Hütte wieder schließt.

Doch nicht nur die Arbeitszeiten und das Pensum sind eine Herausforderung. Auch die Suche nach dem richtigen Personal stellt den erfahrenen Hüttenwirt jedes Jahr aufs Neue vor eine Herausforderung. “Bei diesen Arbeitszeiten bin ich von Leuten abhängig, die den Job wirklich machen wollen.”, betont er. Ich frage nach den Unterschieden zur Gastronomie im Tal. “Hier oben musst Du auch Klartext reden können. Das kann man sich im Tal nicht erlauben.” Als ich noch immer nicht verstehe, was Thomas anzudeuten versucht, wird er konkreter. Er erklärt, dass das Personal in der Lage sein muss, die Hüttenregeln durchzusetzen: “Nach 22 Uhr hast Du keinen Bock mehr auf Saufgelage.” Um solche Leute zu finden, führt Thomas mit jedem einzelnen Bewerber, den er schon zuvor sorgfältig ausgewählt hat, mehrstündige Gespräche per Skype. “Am besten ist es, wenn die Leute überhaupt keine Gastro-Erfahrung haben. Abgesehen vom Koch.”, weiß er. Denn die Leute mit Gastronomie Erfahrung seien oftmals zu überheblich für die Arbeit auf dem Berg.

Inzwischen sind wir beim Dessert, frischem Naturjoghurt mit Waldbeeren, angekommen. Thomas verrät, dass ihn aber nicht nur die Suche nach dem Personal jedes Jahr fordert. Es seien vor allem die Strukturen des DAV und die immer strengeren Haftungsfragen, die ihm Kopfzerbrechen bereiten. Sein Pachtvertrag wird laut Satzung des Vereins immer nur für ein Jahr geschlossen. Kommt es also zu Unstimmigkeiten oder Engpässen im Verein, ist Thomas nicht davor gefeit, im nächsten Jahr keine Vertragsverlängerung oder eben eine Erhöhung des Pachtbeitrags zu erhalten. In so einem Fall müsste er seine Hütte abgeben. Damit sei es ihm nahezu unmöglich, risikofrei zu planen und die Hütte zu investieren. “Ich investiere nur in Dinge, die sich innerhalb eines Sommers amortisiert haben”, bestätigt er.

Gleichzeitig würden die Haftungsfragen immer schwieriger werden. Während er vor Jahren noch eine Slackline vor der Hütte gespannt hatte, fürchtet er sich heute zu sehr vor dem Tag, an dem sich ein Gast auf der Slackline verletzt und ihn zur Rechenschaft zieht. Ähnliche verhalte es sich mit Ratschlägen zu den Wanderwegen. Wenn Wanderer nach einer geeigneten Route fragen, achtet Thomas präzise auf Konjunktive und betont stets sein subjektives Empfinden – zu groß ist die Angst, dass ein Gast zu Schaden kommt und Schuld bei ihm aufgrund seines “falschen” Ratschlags sucht.

Harte Schale, …

Wenn Thomas erzählt, wirkt er kaum so hart, wie seine Arbeit es ihm abverlangt zu sein. Vor allem nicht in den Momenten, wenn Grinch, sein schwarzer zotteliger Hund, sein “Ein und Alles”, unter dem Tisch hervorkommt, um sich eine Streicheleinheit zu holen. Seit knapp zehn Jahren begleitet Grinch seinen Halter. Gemeinsam haben sie eine Vielzahl an Kursen und Ausbildungen absolviert, um der Lawinenhundestaffel der Bergrettung Tirol beizutreten, bevor Grinch an der unheilbaren Augenkrankheit Schäferhundkeratitis erkrankte. Seitdem darf Grinch “einfach nur Hund sein” – Begleithund statt Suchhund und Freude für manchen Wanderer, der sich über die Spezialsonnenbrille des Hundes amüsiert.

Grinch, “Ein und Alles” seines Besitzers

Und auch jetzt, nach elf Jahren als Hüttenwirt, liegt Thomas Eder das ehrenamtliche Engagement nicht fern. Zuletzt unterstützte er ein Berliner Sozialprojekt für benachteiligte Kinder, indem er alle 16 Kinder bei ihrem Ausflug in die Berge mehrere Nächte lang auf seiner Hütte verpflegte – ein finanzieller Ausfall, den die meisten Unternehmer weitaus kritischer abwägen würden, sagt er.

“Für viele hört die Alpen-Romantik beim Matratzenlager auf.”

Inzwischen sind die anfängliche unbehagliche Stimmung und das flaue Gefühl im Magen einer warmen Atmosphäre gewichen. Warm – nicht zuletzt wegen des Zirbenschnaps’, dank dem ich meine Füße an diesem eisig kalten Herbsttag wieder spüre. Ich möchte wissen, was sich in den letzten elf Jahren geändert hat, ob sich überhaupt etwas geändert hat, dort hinterm Berg, wo man noch immer einen geheimen Platz suchen muss, wenn man telefonieren möchte, wo Internet ein Fremdwort ist und wo das Personal Angst vor meiner Kamera hat.

Zirbenschnaps

Thomas erzählt, dass seinen Beobachtungen zufolge durch die Unsicherheiten in den sonst beliebten muslimischen Urlaubsländern die heimischen Regionen touristischen Zuwachs erleben. Gleichsam würden aber auch die Ansprüche und Bedürfnisse der Wanderer wachsen. “Bei vielen hört die Alpen-Romantik beim Matratzenlager auf.” Die Leute haben vergessen, was eine Schutzhütte ist. Dass es dort keine Sauna, kein Privatzimmer, keinen Luxus gibt. “Wenn wir ehrlich sind, gibt es keine Schutzhütten mehr im klassischen Sinn. Der Begriff ist lächerlich. Schon allein, weil wir in Zeiten leben, in denen Du dank Smartphone binnen 15 Minuten vom Hubschrauber gerettet wirst.”, erklärt er.

Und selbst dieses Bewusstsein würde mehr und mehr von übermütigen Hobbywanderern ausgenutzt werden. Als Thomas noch die Regensburger Hütte am Stubaier Höhenweg bewirtschaftete, ist eine Gruppe Wanderer trotz ausdrücklicher Warnung zu einer Wanderung aufgebrochen und dabei in Schlechtwetter geraten. Hüfthoch standen die Wanderer im Schnee und alarmierten die Hütte mit der Nachricht, sie hätten sich verlaufen. In großer Besorgnis ging Thomas, Wirt der Hütte, die die Wanderer zu erreichen versuchten, los, um die Wanderer zu suchen. Während sich Thomas also selbst in hereinbrechender Dunkelheit durch den hüfthohen Schnee kämpfte, in einem Wetter, in dem er selbst niemals einen Berg bestiegen hätte, sah er die Wanderer schon von Weitem – und sie sahen ihn und seine Hütte. “Die haben nur einen Trottel gesucht, der ihnen eine Schneise durch den Schnee bahnt.”

 

Der erste Schnee

Zurück ins Tal

Am Ende des Abends weiß ich mehr über das Leben auf der Hütte, als über die Lechquellenrunde, über die ich doch eigentlich schreiben soll. Als wir müde in unser schmales Doppelstockbett fallen, schneit es draußen. Anfang September. Am nächsten Tag würden wir in eisiger Kälte und 20 Zentimeter Neuschnee die erste Etappe der Lechquellenrunde laufen – mit einer gänzlich neuen Perspektive auf die Wege, die Hütten und ihre Wirte.


Diese Reportage ist nicht Teil der bezahlten Kooperation mit Thomas Eder, sondern entstand aus Eigeninteresse im Rahmen meines Volontariats an der Mitteldeutschen Journalistenschule. Die hier veröffentlichte Version des Textes ist gekürzt und repräsentiert demnach nicht in Gänze die Anspruchshaltung der Journalistenschule. 


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