Vier Wochen Wandern, Natur und Freiheit. Im Sommer bin ich knapp 500 Kilometer vom Großglockner in Österreich durch Kärnten, nach Italien und durch Slowenien gelaufen. Diese Erfahrung hat mein Leben wirklich nachhaltig verändert. In diesen vier Wochen habe ich meine bequeme Wohnung durch einen schweren Rucksack, ein Zelt und die täglichen Strapazen der kilometerlangen Wanderungen getauscht. Und obwohl ich nicht mit der Suche nach einer Selbsterfahrung gestartet bin, hat diese Zeit nahezu jeden Aspekt meines Lebens verändert. Jeden einzelnen dieser 500 Kilometer zu laufen zählt zu den besten Entscheidungen, die ich je getroffen habe, denn sie haben mich das Glücklichsein, Frieden und Dankbarkeit gelehrt. Lass mich Dir erzählen, wie es dazu kam und was Dich vielleicht auch auf deinem eigenen Trail erwartet…

#1 Der Trail macht Dich reicher.

Erfahrung Fernwandern
Es gibt die unterschiedlichsten Wege reich zu werden. Für die meisten Menschen bedeutet Reichtum, Dinge und Werte zu besitzen. Eine Immobilie, ein schickes Auto, einen Kleiderschrank voll Klamotten, eine Küche ausgestattet mit unzähligen Geräten. Und vielleicht hast Du es selbst schon mal erlebt, dass Dich ein neues Kleid oder ein neues Hemd an einem Tag voller Ärger aufgeheitert hat. Mir jedenfalls hat eine kleine Shoppingtour zur Aufmunterung nach einem stressigen Arbeitstag schon manchmal geholfen. Aber wann haben wir genug, um uns gänzlich befriedigt zu fühlen?

Schon in Vorbereitung auf den Trail habe ich auswählen müssen, was ich wirklich brauche. Einige Etappen später wusste ich, dass selbst das noch zu viel war. Ich konnte kaum noch laufen, mein T-Shirt war blutverschmiert von den Schürfwunden, die der schwere Rucksack auf meiner Hüfte gerieben hat. Doch an diesem Tag hatte ich Glück: Ich fand ein Postamt in einem winzigen Dorf und konnte meinen unnötigen Ballast nach Hause schicken.

Erst im Angesicht der Schmerzen, die mir mein Rucksack bereitet hat und dem dringenden Wunsch, so viel Gewicht wie möglich loszuwerden, war es mir möglich, das Nötige vom Unnötigen zu unterscheiden. An diesem Tag schickte ein Buch, meinen Selfiestick, ein Kleid, die zweite Hose, den Dosenöffner, eine kleine Dose mit Schmuck und noch mehr Krimskrams nach Hause. Trotz meiner Erschöpfung empfand ich riesige Freude beim Aussortieren und Aufräumen meines Rucksacks. Und als ich ihn Rucksack wieder aufsetzte, fühlte ich mich leicht und unbeschwert.

Es war ein gänzlich befriedigendes Gefühl wirklich nur genau das zu haben, was ich wirklich brauchte – ein Geschenk, endlich frei zu sein von unnötigem Ballast und dem Gefühl, etwas zu brauchen.

Als ich wieder zu Hause ankam, sah ich meine Sachen mit gänzlich anderen Augen. Sie erdrückten mich. Noch in den ersten Wochen nach meiner Rückkehr begann ich, meine vielen Sachen auszusortieren. Noch immer stelle ich mir beim Aufräumen vor, mein Leben wäre meine neue große Wanderungen und mein Besitz sei mein Rucksack. Diese Denkweise hat nicht nur dafür gesorgt, dass für meinen letzten Umzug (in eine möblierte Wohnung) eine einzige Fahrt in einem Opel Corsa genügte, sondern auch dafür, dass meine Sachen einen unglaublichen hohen Wert bekamen. Während ich zuvor niemals hätte aufzählen können, was sich alles in meiner Wohnung befand, kann ich heute jedes einzelne Teil benennen. Jedes einzelne hat einen echten Nutzen oder wenigstens einen sehr hohen ideellen Wert. Somit wurde ich nicht nur viel reicher, sondern empfinde vollkommenen Frieden bei dem Gedanken alles zu haben und nichts zu brauchen.

#2 Das Wandern macht deinen Verstand klarer.

Erfahrung Fernwandern
Wie sieht ein ganz normaler Tag in deinem Leben aus? Ich jedenfalls stehe morgens auf und habe dann an den meisten Tagen schon viel zu wenig Zeit. Zu wenig Zeit, bis ich beim ersten Termin sein muss und deshalb zu wenig Zeit für ein anständiges Frühstück. Ich sprinte durch meinen Tag von Termin zu Termin, von Telefonat zu Telefonat, von E-Mail zu E-Mail. Ich kaufe ein, ich treffe Menschen, ich gehe zu Veranstaltungen, ich gehe ins Kino, weil ich ein schlechtes Gewissen habe, wenn ich schon wieder auf der Couch sitzen, ich kommuniziere in fünf verschiedenen Messengern über mein Smartphone. Ich plane Reisen und ich verreise meist noch bevor ich die Reise zuvor überhaupt richtig verarbeiten konnte. Du merkst vielleicht, worauf ich hinaus will. Mein Leben läuft trotz dessen, dass ich mir immer wieder Ruheinseln suche, sehr schnell.

In unserem Alltag bleibt selten Zeit, Gewohnheiten zu hinterfragen. Denn schließlich: The show must go on. Tut mir die Organisation meines Alltags gut oder sollte ich etwas gänzlich anders machen? Wie fühle ich mich in der Gegenwart der Menschen, die ich treffe? Umgebe ich mich vielleicht viel zu oft mit Leuten, die negative Gefühle schüren? Welche Dinge tue ich eigentlich wirklich richtig gern? Im Alltag haben wir kaum Zeit und Ruhe uns wichtige Fragen wie diese zu stellen, zu reflektieren und unsere Empfindungen zu ergründen.

Einen Monat lang war ich allein unterwegs. Ich hatte nichts dabei und nichts zu tun, was meine Gedanken ablenken konnte. Diese neu gewonnene Freiheit schaffte Klarheit und den Raum vermeintlich Selbstverständliches zu hinterfragen. Ich dachte an die Menschen zu Hause und unsere gemeinsame Zeit, an meinen Alltag, an meine Gewohnheiten.

Ich stellte fest, dass viele Menschen, die ich häufig treffe – sei es im Arbeitsumfeld, Bekanntenkreis oder sogar unter Freunden – häufig negative Gedanken säen, die mich, wenn auch nur unterbewusst, in meinen Entscheidungen beeinflusst haben. Ich stellte fest, dass es mir wirklich nicht gut tut, zu lang zu schlafen, dafür aber umso besser, wenn ich mir früh die Zeit für kleine Morgenroutinen nehmen. Ich erstellte eine gedankliche Liste an Dingen, die mich wirklich glücklich machen, um dabei schmerzlich zu merken, dass ich denen in der Vergangenheit viel zu wenig Zeit gewidmet hatte.

So simpel diese Erkenntnisse auch sein mögen – erst auf dem Trail, als ich völlig aus Strukturen und Konventionen ausgebrochen war, hatten ich Zeit, Raum und die nötige Distanz, mein Leben und meine Beziehungen klar zu sehen und zu erkennen; Welche Menschen und Gewohnheiten mir gut tun und welche nicht. Diese Klarheit brachte mir schließlich auch die nötige Konsequenz und den nötigen Mut, um meine Erkenntnisse nach der Rückkehr nach Hause in echte Veränderungen zu verwandeln. Ich sagte “Nein” zu Menschen, die mich ausbremsten, ich schuf Raum für die Dinge, die mir gut tun, ich veränderte die Organisation meines Alltags. Heute arbeite ich weitaus mehr und habe auch mehr Verpflichtungen als damals und trotzdem führe ich heute ein deutlich erfüllteres und reflektierteres Leben als zuvor.

#3 Du lernst echte Dankbarkeit.

Erfahrung Fernwandern
Hast Du vielleicht Die fabelhafte Welt der Amelie gesehen und kennst die Szene, in der Amelie auf dem Markt ihre Hand ganz tief in einen Sack getrockneter Linsen steckt und dabei lächelt? Vielleicht musst Du jetzt auch schmunzeln, weil sich das so albern anhört.

Diese Szene steht ganz sinnbildlich für das, was mich der Trail gelehrt hat. So kitschig es auch klingen mag: Ob nun eine Hand in einem Sack Linsen oder – wie in meinem Fall – das Gefühl von dörrem Gras unter meinen Füßen auf einem Berg, ein frischer Windhauch oder das kalte frische Bergwasser an verschwitzten Händen… durch die Ruhe des Laufens, das fehlende Smartphone und die Bescheidenheit, die ich auf der Wanderung gelebt habe, haben Kleinigkeiten wie diese meine ganze Aufmerksamkeit auf sich gezogen – als seien alle Sinnesorgane wach und durstig nach neuen Empfindungen während sie sich zu Hause in der Großstadt immer nur nach Ruhe sehnen.

Während sich meine Wahrnehmung von kleinen Details wie diesen so stark veränderte, wuchs gleichzeitig auch die Bedeutung der Annehmlichkeiten, Begegnungen und Gesten, die ich erlebte. Kannst Du dir vorstellen, wie ich mich in einer eisig kalten Nacht über eine geliehene Decke gefreut habe? Oder darüber, als mir eine alte Bäuerin auf einem Berg ihr zwei Tage altes Kalb zeigte? Wie unglaublich dankbar ich war, als mich zwei junge Frauen, die ich traf am Ende einer wirklich harten Etappe zum Essen einluden?

Erst als ich nichts hatte und so sehr auf die Freundlichkeit der Menschen angewiesen war, die ich traf, empfand ich zum ersten Mal tiefe Dankbarkeit. Was mit Freude über eine Flasche frisches Bergwasser und einer geliehene Decke begann, breitete sich schnell aus und wuchs heran zu einem kaum greifbaren Gefühl der Dankbarkeit. Tagelang trug ich diese vage Empfindung mit mir herum und trotz ihrer Unbegreiflichkeit wuchs sie immer mehr zu einem fast schon überforderden Gefühl der Glücks.

Auf einem Berggipfel an der österreichisch-italienischen Grenze bahnte sich dieses Gefühl und die Erkenntnis über mein schier unfassbares Glück einen Weg in mein Bewusstsein. Ich weinte über mein eigenes Glück. Zum ersten Mal verstand ich, wie glücklich ich eigentlich war. Während mir mein Leben bisher keine Zeit zum Nachdenken gab, verstand ich endlich mein großes Privileg gesund zu sein, in Frieden zu leben, über finanzielle Mittel zu verfügen, die mir ein sorgenfreies Leben und sogar eine Reise wie diese ermöglichen. Ich dachte daran, welches Glück ich allein habe, weil ich liebe und geliebt werde, weil ich nicht allein umherwandle und ein Telefonbuch voller Menschen habe, die sich freuen würden meine Stimme zu hören.

Ich bin mir sicher: Hätte ich diese Wanderung nicht gewagt, ich wäre nie lang genug allein, ohne Ablenkung und in einer so körperlich anstrengenden Situation gewesen, um diesen Gedanken zu fassen. Mehrere Wochen trug ich diesen Gedanken mit mir herum – durch unzählige Situationen der kleinen Freuden – bis ich in der Lage war ihn zu greifen und tatsächlich zu verstehen.

Das Allerschönste: Das Bewusstsein über mein Glück hält seither an. Manche Tage und Wochen legen einen Nebelschleier der Selbstverständlichkeit darüber, doch meist reicht schon ein Windhauch, um wieder klar zu sehen.


Laura Ingalls Wilder

Alle Zitate stammen von Laura Elizabeth Ingalls Wilder, geboren 1867 in Wisconsin. Sie war US-Amerikanische Schriftstellerin, Farmersfrau & Pionierin und schrieb “Unsere kleine Farm”, die wir als Fernsehserie kennen. Ihre Tochter gehörte einer Frauenrechtsbewegung an, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts für das Frauenwahlrecht einsetzte. Laura E. I. Wilder selbst wird oft als weltoffen bezeichnet und hatte eine damals undenkbare humanistische Einstellung zu den amerikanischen Ureinwohnern, die sie auch in ihrem ersten Zeitungsartikel äußerte: „If I would have been an Indian, I think I would have scalped more white folks.“ 


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  1. Sehr schön geschrieben! “Minimalismus als Geschenk” – ich bin zwar gerade in dem Modus, dass ich mich Schritt für Schritt von mein Hab und Gut trennen will und habs als Befreiung gesehen, aber noch nicht als Geschenk. Das klingt fast noch motivierender alle Sachen direkt zu verschenken/verkaufen! 😀

    Liebe Grüße
    Nate

    1. Hey, freut mich wirklich sehr, wenn der Artikel Dich inspiriert hat. 🙂 Glaub mir, dein Bauchgefühl wird Dir sehr zuverlässig sagen, woran Du hängst und was Du verkaufen kannst. Trau Dich, es wird sich großartig anfühlen! 🙂
      Liebst, Magda

  2. Du hast ja sooooo Recht! Wir waren zwar “nur” vier Tage im Grand Canyon unterwegs, aber selbst diese kurze Zeit hat uns verändert. Ich kann alles genau nachfühlen. Es ist so unbeschreiblich, oder? Und es macht süchtig!
    LG
    Silke

    1. Hallo Silke 🙂 Danke für deinen lieben Kommentar! Es ist immer wieder schön Menschen kennenzulernen, die diese Gefühle und Gedanken auch kennen. Irgendwie beginnt man nach so einer Erfahrung ja doch ein “neues Leben”… Hast Du vor bei deiner nächsten USA-Reise wieder zu wandern?
      Liebe Grüße, Magda

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